Die Mitte im Kreis der Intelligenzen ist die Musik
Vom Ursprung der Musik, der Sprache, des Menschen
Unser
Schulwesen ist krank. Das Wort Schule stammt aus dem Griechischen und bedeutet
eigentlich Musse. Aber die Schülerinnen und Schüler, die als Erstklässler
voller Neugier und Lust in die Schule eintraten, sind dauernd im Stress, viele mögen
nicht mehr lernen, manche werden aggressiv. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind
weniger motiviert als früher, aber anderseits stehen sie unter erhöhtem Druck
seitens der Eltern und der Behörden.
S.
25:
Aus
den Schlussfolgerungen von PISA 2000 lassen sich keine direkten Vorschläge für
eine Verbesserung ableiten. Deshalb formuliere ich im folgenden einige
Postulate. Einige davon sind mir besonders wichtig; sie sind unterstrichen, und
ich werde ihnen später ein ausführliches Kapitel widmen.
Gäbe
es pro Klasse nur einen einzigen Schüler, so könnte der Lehrstoff optimal
vermittelt werden, nämlich immer angepasst an die Intelligenz, die persönliche
Reife und das aktuelle Können und Kennen des Schülers. Aus Kostengründen muss
die Volksschule aus ganzen Klassen bestehen. Wenn in ihnen effizient gearbeitet
werden soll, dann müssten die Schüler möglichst gleich gescheit und gleich
reif sein. Deshalb werden die Klassen aus Schülern gleichen Alters gebildet.
Das ist aus vielerlei
Gründen eine Illusion. Auch wenn alle Schüler einer Klasse am gleichen Tag
geboren worden wären, sie wären mit Bestimmtheit nicht alle gleich
intelligent, gleich reif und an den gleichen Dingen interessiert. Dazu kommt,
dass in jeder dieser Klassen von gleichem
Jahrgang faktisch immer ein Altersunterschied von wenigstens zwei, oftmals bis
zu drei Jahren besteht. Da sind die Repetenten, da sind zu früh Eingeschulte,
da sind aus anderen Gegenden zugezogene Kinder (die dort natürlich schlechter
geschult wurden). Eigentlich entspricht diese breite Streuung fast den alten
Dorfschu-len, nur eben mit dem Unterschied, dass die Kinder in den
Jahrgangsklasse alle gleich weit zu sein haben. Und während in den Dorfschulen
die älteren Schüler den jüngeren und schwächeren lernen halfen und dabei
helfen lernten, herrscht hier Konkurrenzdenken und ist es streng verboten, zu
helfen und abzuschreiben. Während in den Dorfschulen die Gescheite-ren unter
den Jüngeren ganz natürlich von dem profitierten, was mit den Älteren
erarbeitet wurde, langweilen sie sich in den Jahrgangklassen und treiben natürlich
Unfug.
In
Finnland besuchen alle Schülerinnen und Schüler während 9 Schuljahren die
obligatorische Gesamtschule (6 Jahre Unterstufe und 3 Jahre Oberstufe). …
An
älteren Schulhäusern kann man heute noch in Stein gemeisselt den schönen
Spruch lesen: "Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen
wir!" An diesem Spruch ist zweierlei falsch: Erstens hat der jüngere
Seneca, von dem die Sentenz stammt, in Wirklichkeit genau das Gegenteil gesagt,
nämlich "Non vitae sed scholae discimus", "Nicht für das Leben,
für die Schule lernen wir", und zweitens stimmt die richtige Fassung
weitgehend noch immer. Im folgenden will ich aufzuzeigen versuchen, dass
Seneca mit seinem Spott auch heute noch recht hat.
Das
Hauptübel unseres Schulsystems besteht darin, dass es – mit verheerenden
Folgen – geprägt ist durch die Selektion. Von diesem Prinzip sind unsere
Schulen von oben nach unten durchdrungen. …
Der Musik und damit
einem soliden Musik-Unterricht kommt dabei eine ganz herausragende Rolle zu. Man
weiss heute, dass die Musik schon in der frühen Kindheit (besonders für die
Sprachentwicklung) eine wichtige Rolle spielt und dass aktives Singen und
Musizieren und das Erlernen des musikalischen Symbolsystems die Entwicklung der
Intelligenz fördern. Namhafte Forscher in der Neurologie wie Hellmuth Petsche
und Gordon Shaw sind zur Erkenntnis gelangt, dass Musizieren viele
Intelligenzbereiche wie die kinästhetische Intelligenz, die mathematische
Intelligenz und die intrapersonale Intelligenz per se trainiert, und dass Musik
als Übung für höhere Gehirnfunktionen dienen kann.
Beim
Musizieren kann sehr schön gezeigt werden, wie die drei Bereiche Denken, Fühlen,
Handeln ineinandergreifen und einander gegenseitig unterstützen. Jedes
notierte Musikstück besteht aus vielen hochbedeutsamen Zeichen, welche die Höhe
der Töne, ihre Dauer und ihre Lautstärke genau festlegen; sie zu lesen, ist
vor allem die Aufgabe der linken Hirnhemisphäre. Aber auch schon einfache Stücke
bestehen aus einer Partitur; um sie zu überblicken, zu begreifen und in eine
Klangvorstellurig umzusetzen, bedarf es der rechten Hirnhemisphäre. Diese
wird auch dafür sorgen, dass das Stück nicht einfach maschinell abläuft,
sondern beseelt erklingt. Noch muss es aber realisiert werden, und dazu ist ein
hochdifferenziertes Spiel der Hände nötig, wohlgemerkt: beider Hände; und
damit sind auch beide Hemisphären zu präziser Koordination genötigt.
Alle drei Aufgaben fordern den menschlichen Geist in hohem Masse heraus;
und umgekehrt manifestiert sich dieser in der Dreiheit Kopf, Herz und Hand.
Genau
genommen ist der Begriff der Intelligenz eigentlich
nie definiert worden; er hat sich einfach aus den Intelligenz-tests ergeben.
Unterdessen haben wir uns jedoch an den Terminus gewöhnt, und wir laufen
Gefahr, an die Existenz dessen zu glauben, was er zu bezeichnen vorgibt.
„Denn eben wo Begriffe fehlen, da
stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein,
Mit Worten lässt sich trefflich
streiten, mit Worten ein System bereiten,
An Worte lässt sich
trefflich glauben, von einem Wort lässt sich kein Jota rauben“
lässt
Goethe den Mephisto im ‚Faust“ spotten ...
S. 55
An Gardners Konzept war vor allem zweierlei neu: dass musikalische, körperliche und personale Kompetenzen in den Rang einer Intelligenz erhoben wurden, und dass alle Intelligenzen als weitgehend voneinander unabhängig betrachtet werden. Diese „neuen“ Intelligenzen werden im folgenden kurz besprochen, wobei die musikalische Intelligenz, die in der Aufzählung von Gardner bereits an zweiter Stelle erscheint und von ihm in ihrer Bedeutung entsprechend hoch eingeschätzt wird, aus dramaturgischen Gründen erst zuletzt an die Reihe kommt.
S. 110
Jede der sieben
Gardner’schen Intelligenzen hat also eine starke Beziehung zur musikalischen
Intelligenz, zu den andern Intelligenzen jedoch meist nur schwache oder keine
Beziehungen (mit Ausnahmen: Die mathematische und die räumliche Intelligenz und
ebenso die beiden personalen Intelligenzen haben starke Beziehungen
miteinander). Es drängt sich daher auf, die musikalische Intelligenz ins
Zentrum eines Sechsecks zu zeichnen und darum herum in den Ecken die sechs
andern Intelligenzen anzuordnen. Durch diese Darstellung wird die zentrale
Bedeutung der Musik für den Menschen überraschend deutlich sichtbar.
S.
132
Liebe Leserin.
lieber Leser: Was in diesem letzten Kapitel dargelegt wurde, sieht für Sie
vielleicht aus wie ein Schulreglement, ein trockenes, dürres Papier, wie ein
schönes, aber noch leeres Gebäude, das auf den Einzug der Bewohner wartet. Wäre
es verwirklicht, könnte ich Ihnen berichten von pulsierendem Leben in dem Haus,
von fröhlichem, ernsthaften Lernen junger Menschen zusammen mit verständnisvollen,
engagierten und klugen Lehrerinnen und Lehrern, von beglückendem Erleben beim
Musizieren, Singen und Tanzen, beim Theaterspielen, beim Zeichnen, Malen und
Modellieren, von leuchtenden Augen und Stolz bei bestandenen Tests, bei
gewonnenen sportlichen Spielen, bei Auszeichnungen für besonders anspruchsvolle
Arbeiten. Die Rede wäre von Schulen, die es verstanden haben, alle Eltern, auch
die bildungsfernen einzubeziehen bei Schulanlässen, im Elternrat, in den
Schulbehörden, in Erziehungskursen und sogar im Unterricht, so dass sie sich
mitverantwortlich fühlen für das Wohl und den Erfolg der Schule.
Ich kann nicht
mehr selber Hand anlegen. Aber ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Sie für
meine Vision zu erwärmen oder gar zu begeistern, so dass Sie mithelfen werden,
dass die künftigen Generationen von Schülerinnen und Schülern in den Genuss
einer Schule kommen, in der einige meiner Vorschläge verwirklicht sind, und wo
vor allem die musischen Fächer und besonders die Musik zu ihrem Recht kommen.
Seite 9:
In diesem Buch soll darüber nachgedacht werden, wie Lernen und Intelligenz zusammenhängen, wie die Schule wieder gesund und fröhlich werden, und wie ihr die Musik dabei helfen könnte.
Seite 57:
Bei der Evolution des Menschen spielt die Entwicklung des Gehirns die entscheidende Rolle. Vor ungefähr vier bis fünf Millionen Jahren, im Miocän am Ende der Tertiärzeit, lebte in den Wäldern Ostafrikas der Australopithecus , eine Schimpansenart, die sich auf zwei Beinen bewegte. Zwar entwickelte er in den nächsten zwei Millionen Jahren zwei Formen, eine robuste im südlichen, und eine grazile im östlichen Afrika. Aber abgesehen davon veränderte er sich während dieser langen Zeit trotz des aufrechten Ganges kaum.
Mit dem homo habilis , der in der Zeitspanne von 2,2 bis 1.6 Millionen Jahren vor heute lebte – der erste Fund stammt vom Ostufer des Turkanasees in Kenia –, beginnt der Stammbaum der Gattung homo. Sein Schädel hat sich verändert: der Kiefer, der beim Australopithecus vor dem Hirnschädel lag, ist nach hinten, unter den Gehirnschädel gewandert, das Gesicht ist dadurch steiler geworden, das Gebiss entspricht einem Allesfresser. Die Gehirnkapazität ist grösser geworden: das geschätzte Hirngewicht beträgt 631 g im Vergleich zu 415 bis 530 g bei den Vorgängern.
An
Abgüssen des Schädelraums kann man erahnen, dass dieser erste Mensch
vielleicht bereits über ein kleines Sprachzentrum, also wahrscheinlich auch über
eine rudimentäre Sprache
verfügte.
Der linke Frontallappen zeigt nämlich ein ähnliches Windungsmuster wie das an
der gleichen Stelle liegende Broca-Zentrum
des
modernen Menschen.[i]
Das würde auch bedeuten, dass das Gehirn des homo habilis
bereits
lateralisiert war, die Hirnhälften also spezialisierte Aufgaben übernahmen.
Dazu passt, dass die ältesten menschlichen Werkzeuge, die aus der gleichen Zeit
stammen und ebenfalls in Ostafrika gefunden wurden, auf Rechtshändigkeit
hindeuten.
Seiten 59 bis 60:
Alle diese Faktoren bewirkten einen Evolutionsdruck, der seinerseits ein grösseres Gehirn verlangte. Aber sie vermögen den plötzlichen Schub in der Entwicklung des Gehirns vor zweieinhalb Millionen Jahren nicht befriedigend zu erklären, insbesondere nicht das beim homo habilis angedeutete Broca-Zentrum und sprachliche Fähigkeiten.
Der Mensch ist das einzige höhere Tier, das Rhythmen synchronisieren kann. Dank dieser Fähigkeit können wir miteinander singen, musizieren und tanzen. Nur wenige niedere Tierarten können Signale oder Laute im synchronen Chor koordinieren; das Phänomen heisst "Leuchtturm-Effekt", weil es erstmals an tropischen Leuchtkäfern untersucht wurde, die ihre Glühsignale manchmal zu Tausenden in einem Baum synchronisieren. Meistens geht es darum, durch die Verstärkung des Signals Weibchen anzulocken. Aber es gibt auch Frösche, deren Männchen synchron quaken, um das Schall-Radarsystem einer angreifenden Raubfledermaus zu stören.
Irgend einmal in seiner Entwicklung muss der Mensch diese erstaunliche Fähigkeit erworben haben, nachdem er entdeckte, dass bei einem gleichförmig ablaufenden Metrum pum, pum, pum ... der jeweils nächste Schlag genau voraushörbar ist. Und dieser primitive Puls, die einfachste strukturelle Eigenschaft der Musik überhaupt, ermöglicht es mehreren Individuen, ihre Bewegungen und ihre Stimmen zu synchronisieren . Zu dieser für den Menschen hoch bedeutsamen Entdeckung kam es höchst wahrscheinlich vor etwa zwei Millionen Jahren.
Alle in Gruppen lebenden Tiere müssen sich vor Inzucht schützen. Meistens sind es die Männchen, die „wandern", um sich mit einem Weibchen einer fremden Gruppe zu paaren. Bei den Schimpansen und den Hominiden - und sicher auch bei ihren gemeinsamen Vorfahren – gilt jedoch die "female exogamy": Die Weibchen wandern zu einer neuen Gruppe und finden dort einen Partner. Den Männchen ihrerseits obliegt es, die fremden Weibchen anzulocken. Heutige wilde Schimpansen veranstalten den sogenannten Schimpansen-Karneval, eine Lärm-Orgie, mit der sie ihre Artgenossen herbeirufen, wenn sie einen Baum mit Früchten finden. Falls dieses Ritual schon vor zwei Millionen Jahren üblich war, hatten diejenigen Schimpansen, welche die Synchronisation entdeckt hatten, einen grossen evolutionären Vorteil: Ihr Lärm reichte weiter, über die Territoriumsgrenzen hinaus, so dass fremde Weibchen ihn hörten und angelockt wurden.
Seite
61:
Ohne
Musik keine Sprache, keine Sprache ohne Musik
Mit den Phonemen lagen die Grundlagen für die Entwicklung einer Sprache bereit. Es brauchte dazu nur noch einen kleinen, allerdings entscheidenden Schritt, nämlich die Zuweisung einer Bedeutung zu den Lauten. Dadurch wurden diese zu Symbolen für etwas, zunächst für Gegenstände, Personen oder Tätigkeiten. Aus den Phonemen konnten sich im Laufe der Zeiten durch Kombination in fast unendlicher Zahl die Morpheme bilden, die wundersamen Wörter in allen Sprachen der Welt.
Das synchrone Tanzen und Singen wäre damit nicht nur die evolutionäre Ursache für das Wachstum des Gehirns beim Menschen gewesen, sondern auch für die Entwicklung der menschlichen Sprache. Die Sprache hätte sich aus der Musik entwickelt. Ein Hinweis darauf ist die erwähnte Andeutung eines Broca-Zentrums im Gehirn des homo habilis …
Deshalb ist noch heute jede Sprache voller Musik. Ohne die musikalischen Komponenten Melodie und Rhythmus wären alle Sprachen tot, und ohne Differenzierung in der Klangfarbe, zwischen laut und leise und zwischen schnell und langsam, ohne beredte Pausen und ohne Akzente – lauter musikalische Werte – wären sie ohne rhetorische Feinheit.
Seite 89:
Eines
der schönsten überhaupt ist für mich das Märchen vom Eselein, erzählt von
den Gebrüdern Grimm. Ein Königssohn wird als Eselein geboren und wächst auf,
ohne sich seiner Gestalt bewusst zu sein. Er setzt durch, das Lautenspielen zu
erlernen und bringt es zum Meister. Aber als er sich in einem Brunnen erkennt,
geht er traurig in die Welt hinaus. Dank seinem Spiel wird er an einem Königshof
aufgenommen, gewinnt dort zuerst das Herz des Königs und schliesslich, gerade
als er weggehen will, die Hand
der
wunderschönen einzigen Tochter. In der Hochzeitsnacht streift er sein
Eselsgewand ab und ist ein tadelloser Prinz. Am nächsten Morgen schlüpft er
wieder in die Eselshaut, doch der König kommt ihm auf die Schliche, und alles
wird gut.
Es
ist die Musik, die menschlich macht, aber sie fällt dem Prinzen nicht einfach
zu, er muss sie sich mühsam und beharrlich erarbeiten. Er gibt auch nicht auf,
als er sich selbst und seine Grenzen erkennt. Sein Glück fällt ihm zu, weil er
verzichten und loslassen kann, und von der Eselsgestalt erlöst ihn die
Prinzessin, die ihn so liebt, wie er ist. Das Märchen ist die Geschichte einer
Menschwerdung
durch die Musik.
Seite 103:
Beginnen müsste diese
musikalische Erziehung in der frühen Kindheit, also im Elternhaus. Und Mütter
und Väter müssten lernen (was viele von ihnen als Kind selber nicht mehr
erleben durften), mit ihren Kindern zu singen.
Seite 106:
Unverzichtbar
aber ist eine Aufwertung
des Musischen in den Schulen und besonders des Faches Musik. Die Musik kann die
Mühsal des Lernens mildern, sie kann zum Lernen motivieren, den Schülerinnen
und Schülern Lebenslust schenken, sie kann unsere Schulen menschlicher machen.
Soziale Strukturen
Nach Adolf Portmann ist der Mensch eine „physiologische Frühgeburt“, das heisst er durchläuft, verglichen mit den andern Säugetieren, das letzte Stadium der Schwangerschaft, nämlich das ganze erste Lebensjahr, ausserhalb des Mutterleibes. Entwicklungsgeschichtlich lässt sich das so erklären, dass das weibliche Becken und vor allem der Geburtskanal einem grösseren Kopf nicht gewachsen gewesen wäre. Nach der Geburt kommt es zu einem geradezu explosiven Wachstum der Hirnmasse; bei einem vierjährigen Kind ist sie bereits auf das Dreifache des Geburtgewichts angewachsen, und da nun die Hirnentwicklung zum grösseren Teil in der Aussenwelt stattfindet, ist die Stimulation des Gehirnwachstums durch äussere Reize viel grösser. Adolf Portmann schreibt:
„Dass uns ein vorläufig unbekanntes Zusammenspiel von Naturfaktoren ein Jahr früher zur Welt bringt, muss im Zusammenhang damit gesehen werden, dass die wichtigsten Eigenschaften des Menschen - die Trias Stehen, Sprechen, Denken - sich nur im Kontakt mit der Sozialwelt herausbilden können. Die Mitwirkung einer Menschengruppe mit ihrer Tradition ist die erste Voraussetzung für die Normalentwicklung des einzelnen Menschen. Das ist nicht eine zufällige Kombination: Unser Sozialkontakt ist obligatorisch!
Ist die Mithilfe der Gruppe, die liebevolle Umhegung des Neugeborenen nicht gesichert, dann entwickeln sich Haltung, Sprechen, Seelenleben und Denken in Bahnen, die nicht zur vollen Menschlichkeit führen. Auch das Aufrichten spielt sich unter der Anregung durch die Eltern ab, und der Stolz des Kindes ist deutlich, wenn es seine ersten Schritte versucht. Die Anregung dazu ist eine notwendige Voraussetzung, eine Aufgabe der Gesellschaft. Ähnlich hängen das Sprechen, d.h. die Übernahme der Wortsprache wie auch das einsichtige Verhalten von der Anwesenheit einer intakten Gruppe mit ihrem durch die Wortsprache bestimmten Verhalten ab.“
Seite 7
Wie ist der Mensch zur Sprache gekommen?
Die Sprache ist das wohl grösste Wunder am Menschen. Als kleines, hilfloses Wesen kommt er zur Welt, und mit fünf Jahren, noch bevor wir ihn zur Schule schicken (wo er die wichtigen Dinge für das Leben erlernen soll), beherrscht er bereits das Allerwichtigste, die Sprache der Eltern, samt Grammatik, Syntax und Semantik. Wie ist das zugegangen? Ist uns die Sprache angeboren, wird sie uns göttlich eingehaucht?
Diese Fragen haben die Menschen schon im Altertum beschäftigt. So berichtet Herodot vom Pharao Psammetich II, der im 7. Jahrhundert vor Christus lebte, dieser habe, um herauszufinden, welches die älteste Sprache sei, zwei neugeborene Kinder einem Ziegenhirten übergeben mit dem Auftrag, sie zwar zu versorgen, aber niemals ein Wort zu ihnen zu sprechen. Nach zwei Jahren hätten die Kinder „bekos, bekos“ gerufen, was im Phrygischen „Brot“ bedeutet, und deshalb habe der Pharao anerkennen müssen, dass das Volk der Phryger älter sei als das der Ägypter. (Wahrscheinlich haben die Kinder eher ein meckerndes „bekbek“ gerufen, in der Sprache, die sie von den Ziegen gelernt hatten.) Noch schrecklicher ist das Experiment, das der römisch-deutsche Hohenstaufen-Kaiser Friedrich II. XE "Friedrich II" , ein Enkel Barbarossas, der im 13. Jahrhundert in Süditalien residierte, anstellte: Dieser berühmte Herrscher, der zum Ärger des Papstes die Wissenschaften und arabische Gelehrte förderte, die Künste XE "Künste" (z.B. den Minnegesang) pflegte und selber lyrische Gedichte schrieb, liess in der Gegend von Parma ein Experiment an Kindern durchführen, um zu erfahren, welches die Sprache des Paradieses gewesen sei, ob griechisch, lateinisch oder hebräisch. Er wählte eine Anzahl verwaister Neugeborener aus und „befahl den Ammen und Pflegerinnen, sie sollten den Kindern Milch geben, sie pflegen und waschen, aber in keiner Weise mit ihnen schön tun und nicht zu ihnen sprechen.“ Aber die Kinder kamen gar nicht zum Sprechen; sie starben nach einiger Zeit, „denn sie vermochten nicht zu leben ohne das Händepatschen und das fröhliche Lachen und die Koseworte der Ammen.“
Aus unserer Zeit berichtet der Psychoanalytiker René Spitz von Beobachtungen in einem Findelhaus, wo die Kinder in den ersten drei Lebensmonaten von ihren Müttern oder einer der andern Mütter gestillt wurden.
„Während dieser drei Monate wirkten die Säuglinge wie der Durchschnitt der normalen Kinder in der Stadt, in der sich das Findelhaus befand (und standen im Test auf dem gleichen Entwicklungsstand wie diese). Nach dem dritten Monat wurden Mutter und Kind getrennt. Die Säuglinge blieben in dem Findelhaus, in dem sie körperlich in jeder Hinsicht angemessen versorgt wurden. Ernährung, Hygiene, ärztliche und medikamentöse Versorgung usw. waren so gut wie in irgend einer anderen von uns beobachteten Anstalt oder sogar besser.
Aber da eine einzige Schwester acht Kinder zu versorgen hatte (offiziell; in Wirklichkeit waren bis zu zwölf Kinder der Obhut einer Schwester anvertraut), mussten sie psychisch verhungern. Drastisch ausgedrückt, sie bekamen etwa ein Zehntel der normalen affektiven Zufuhr, die sie in der üblichen Mutter-Kind-Beziehung bekommen hätten. Nach der Trennung von ihren Müttern durchliefen diese Kinder zunächst die Stadien des fortschreitenden Verfalls, wie er für den partiellen Entzug charakteristisch ist, den wir vorher beschrieben haben. Die Symptome der anaklitischen Depression folgten rasch aufeinander, und alsbald, nach der relativ kurzen Zeit von drei Monaten, zeigte sich ein neues klinisches Bild: Die Verlangsamung der Motorik kam voll zum Ausdruck; die Kinder wurden völlig passiv; sie lagen in ihren Bettchen auf dem Rücken. Sie erreichten nicht das Stadium motorischer Beherrschung, das notwendig ist, um sich in die Bauchlage zu drehen. Der Gesichtsausdruck wurde leer und oft schwachsinnig, die Koordination" der Augen liess nach.“
Diese von Spitz als „Hospitalismus“ bezeichneten Verfallserscheinungen lassen sich mindestens teilweise nicht rückgängig machen, wenn der Liebesentzug mehr als drei bis fünf Monate gedauert hat.
Dass der Schottenkönig Jakob IV (1488 bis 1513) das grausame Spiel Friedrichs II wiederholte, macht die Sache nicht besser.
Seite 17:Eine neue Theorie
Nun hat der norwegische Naturwissenschaftler Björn Merker eine neue Theorie vorgestellt. Wie ich zu Beginn angedeutet habe, gibt es ausser der Sprache und der sozialen Prägung des Menschen einen weiteren Bereich mit einem klaren Unterschied zwischen Mensch und Tier, an den bisher kaum jemand gedacht hat, der aber von enormer Bedeutung ist: Es ist die Fähigkeit des Synchronisierens von Rhythmen und Klängen.
Alle heutigen Menschen können, wenn sie einen gleichbleibenden, aus blossen Schlägen bestehenden Rhythmus hören, in diesen Rhythmus ohne weiteres einstimmen. Das gilt sowohl für langsame wie schnelle Schlagrhythmen (etwa von 40 bis 200 Schlägen pro Minute). Dieser primitive Puls, die einfachste strukturelle, aber grundlegendste Eigenschaft der Musik, ermöglicht es mehreren Individuen, ihre Bewegungen und ihre Stimmen zu synchronisieren. Diese Eigenschaft ist im Tierreich äusserst selten. Nur wenige niedere Tierarten sind ebenfalls befähigt, Signale oder Laute im synchronen Chor zu koordinieren. Das Phänomen heisst dort "Leuchtturm-Effekt", weil es erstmals an tropischen Leuchtkäfern untersucht wurde, die manchmal zu Tausenden in einem Baum ihre Glühsignale aufleuchten lassen. Bei einer tropischen Frosch-Art können die Männchen synchron quaken, um das Schall-Radarsystem einer angreifenden Raubfledermaus zu stören. Aber meistens geht es darum, durch die Verstärkung des Signals Weibchen anzulocken.
Unter den höheren Tieren ist diese Fähigkeit einzig dem Menschen vorbehalten, und wir sind uns viel zu wenig bewusst, was wir ihr zu verdanken haben. Denn nur dank ihr hat der Mensch gelernt, zu singen, zu tanzen und zu musizieren; nur dank ihr konnte die Musik überhaupt entstehen, und wahrscheinlich lernte der Mensch nur dank dieser Fähigkeit sprechen.
[i] Henke, W. & Rothe, H.: Paläoanthropologie. Springer Verlag Berlin Heidelberg, 1994. Seite 323
[ii]
Das lässt sich auch bei den heutigen Menschen beobachten: In
Gebieten, die sich entvölkern, z.B. im hohen Norden oder in Bergtälern,
wandern die jungen Mädchen aus, während die Männer bleiben.
[iii]
Pusey, A.,
Williams, J. & Goodall, J.: The influence of dominance rank on the
reproductive success of female chimpanzees. In:
Science 277/1997, S.828-831
[v]
Merker
, B.: Musik an der Wurzel des
Menschseins. In: Bastian
, H.G. & Kreutz, G. (Hrsg.):
Musik und Humanität. Interdisziplinäre Grundlagen für (musikalische)
Erziehung und Bildung. Symposiums-Bericht. Schott, Mainz. 2003.
[vi]
Vielleicht ist der Prozess oft auch
umgekehrt abgelaufen: Ein Ding wollte benannt sein und fand ein
entsprechendes Morphem. So schaukelten sich die Lust am Artikulieren und die
Erweiterung des Wortschatzes gegenseitig auf, und parallel dazu entwickelte
sich der Kehlkopf zu einem den wachsenden Ansprüchen genügenden
Instrument. Aber von der Frage nach dem Huhn oder dem Ei kann keine Rede
sein: Zuerst kam die Musik, dann kam die Bedeutung und damit die Sprache
.